Heike Lueken info@heikelueken.de BY-NC-ND

Schon einmal über Zeit nachgedacht? Mit Sicherheit, denn meistens hat man keine. Oder man muss sie sich nehmen, zum Beispiel für eine Verabredung mit Freunden, bei der man gemeinsam feststellt, wie die Zeit verfliegt. Oder man muss sie füllen, um sie nicht ungenutzt vorbei gehen zu lassen. Zeit wird einem nur selten geschenkt, z.B. wenn ein Termin ausfällt. Dann entsteht ein plötzliches Zeitfenster. Der Begriff suggeriert, dass hier eine Auslassung entsteht, die den Blick frei macht für andere Dinge. In der Realität werden Zeitfenster aber gefüllt, denn dazu sind sie da und die assoziierten Möglichkeiten – Lüften, Rausschauen, einen anderen Blick bekommen – werden ad absurdum geführt.

Die Zeit ermöglicht wunderbare Überraschungen, Just-in-Time-Lieferungen oder den Flugtourismus. Die Kehrseite der Medaille sind die Möglichkeit des Zu-Spät-Kommens oder Stressbewältigungsseminare. Vielleicht sogar die in Großstädten überfüllten Yoga-Kurse und die periodischen Berichterstattungen über Aussteiger und Down-Shifter. Aber auch das Phänomen des rasenden Stillstands: Wenn die Zentrifugalkraft der Zeit zunimmt, entsteht in ihrem Zentrum ein Moment des Stillstands, bei dem die Teilhabe am Außen ebenso unmöglich wird wie vice versa. Die Zeit ist nichts, was ist und immer schon war, sondern etwas Gemachtes. Eine Erfindung. Im Gegensatz zu den Jahreszeiten oder dem Tag-Nacht-Rhythmus ist die Zeit ein Konzept. Etwas Überlegtes. Zeit ist keine anthropologische Konstante, die für alle Menschen gleich ist, sondern kulturspezifisch. Das belegen schon allein die Gleichzeitigkeit des gregorianischen, chinesischen oder des jüdischen Kalenders.

Jahr, Monat und Tag lassen sich auf astronomische Beobachtungen zurückführen. Der Urmonat, also die Zeit zwischen zwei Vollmonden, bildet die Grundlage unseres heutigen Kalenders. Schon die Steinzeitmenschen haben Naturläufe wahrgenommen und genutzt, zum Beispiel für die Ernte. Die Wiederkehr des Siriussterns hat die alten Ägypter zu der Annahme veranlasst, dass das Sonnenjahr 365 Tage hat. Die Entdeckung der Regelmäßigkeit, mit der Sonne und Mond sowie Naturerscheinungen wiederkehren, kennzeichnen damit den Beginn einer Zeitrechnung, von denen es, wie gesagt, viele gibt. Je älter diese Zeitrechnung in der sogenannten westlichen Welt wird, desto genauer aber wird sie: Den Babyloniern waren die Zahlen 12 und 60 heilig, sie teilten den Tag in zwei Mal 12 Stunden ein. Mit den Relikten dieser Heiligsprechung haben wir bis heute zu tun. Ausdifferenziert wurde aber erst mit Beginn der Neuzeit. Den Sonnenuhren, Stundenkerzen, Sanduhren oder Räderuhren folgte im 18. Jahrhundert das Chronometer «H4» des englischen Hobby-Uhrmachers John Harrison. Zeitgenossen sprachen ob seiner Messgenauigkeit von einem Wunder. Seitdem hat die Unruh der Uhren die Zeit zu einer bis ins Kleinste messbaren Einheit gemacht. Das persönliche Zeitempfinden oder die innere Uhr des Menschen mögen zwar unterschiedlich ticken, lassen sich aber präzise in Stunde, Minute, Sekunde, Zehntel – oder gar Millisekunde einteilen. Die Planck-Zeit ist dabei der unvorstellbar kürzeste Zeitabschnitt: 10-43s. Sie mit ihrem Schöpfer, Max Planck, dem Begründer der Quantenphysik, zu denken, heißt zu verstehen, dass alles eine gewisse Unschärfe hat, so auch die Zeit. Die Planck-Zeit also markiert die Grenze zur Unschärfe: alles, was unter ihr liegt, ist unbestimmt - und damit sinnlos.

Für diese Sinnlosigkeit finden sich im täglichen Leben ausreichend Beispiele: «Das mache ich später» ist zum Beispiel so eine, denn das kann durchaus soviel heißen wie: «Das mache ich nie», mit dem Vorteil, dass es nicht direkt gesagt werden muss. Oder: «Heute schon an morgen denken». Wer aber weiß, ob das Morgen so wird, wie es heute gedacht wird? Prognosen sind schließlich auch nur Erfindung von Menschen. Auch die zeitgenössische Nutzung der Adjektive «gleich» und «jetzt» belegen die Unschärfe der Dinge. Gleich meint soviel wie «bald», jetzt dagegen «nun, in diesem Moment» oder auch «heute» bzw. «heutzutage». Kindern erklärt man, sie können gleich etwas tun, zuerst müsse ihnen aber beispielsweise die Nase geputzt werden. Wenn sie nicht reagieren, verschärft sich der Ton und der Imperativ wird gezückt: Komm jetzt her, sofort! Beim abendlichen Bier vor dem Fernseher akzeptieren wir eine andere Attributierung: Vor einiger Zeit hieß es «Gleich bei Sender XY», wenn nur noch eben die Nachrichten gelesen oder 15 Minuten Werbung ausgestrahlt werden sollten. Inzwischen (Verifizierungsdatum: 4.7.2010, 20:14 h MEZ) heißt es «Jetzt», obwohl dann der 30-sekündige Werbespot für das beste aller Waschmittel, Bankdarlehen oder Autos folgt. Das Jetzt beginnt heute gleich. «Sofort» wird morgen das neue Jetzt, so dürfen wir annehmen. Gut zu wissen bleibt, dass allerorten Menschen von der Planck-Sekunde und der Unschärfe all dessen wissen, was darunter liegt. Und dass Werbung nicht so doof ist, wie man denken könnte. Zumindest nicht so lange wir alle noch keine Atomuhren am Handgelenk tragen, die die Planck-Sekunde anzeigen.

Lesenswert:
http://t-rich.prognosen-in-bewegung.de
Übelacker, Erich: Was ist Was, Band 22, Die Zeit, Tessloff Verlag, Nürnberg 2008